Ernst
Thälmann und die deutsche Arbeiterklasse
Kassiber an einen
Mitgefangenen in Bautzen 1944
Im Mittelpunkt der
großen Weltereignisse, im Feuer der gegenwärtigen politischen Atmosphäre und im
flutenden Leben der schaffenden Menschheit steht mein Schicksal... Ich bin kein
weltflüchtiger Mensch, ich bin ein Deutscher mit großen nationalen, aber auch
internationalen Erfahrungen. Mein Volk, dem ich angehöre und das ich liebe, ist
das deutsche Volk, und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die
deutsche Nation, eine ritterliche, stolze und harte Nation. Ich bin Blut vom
Blute und Fleisch vom Fleische der deutschen Arbeiter und bin deshalb als ihr
revolutionäres Kind später ihr revolutionärer Führer geworden. Mein Leben und
Wirken kannte und kennt nur eines: Für das schaffende deutsche Volk meinen Geist
und mein Wissen, meine Erfahrungen und Tatkraft, ja mein Ganzes, die
Persönlichkeit zum Bestehen der deutschen Zukunft für den siegreichen
sozialistischen Freiheitskampf im neuen Völkerfrühling der deutschen Nation
einzusetzen!
Als Seemann bin ich in
Amerika und England gewesen, habe fast alle bedeutenden Hauptstädte Europas und
andere Gegenden der Welt zu Gesicht bekommen und dadurch meine Lebenskenntnisse
erweitert und Welterfahrungen gesammelt. Auf den vielen Konferenzen und
sonstigen internationalen Tagungen der Kommunistischen Internationale, an denen
ich teilnahm, kam ich in engste Berührung mit Persönlichkeiten fast aller
Völker des gesamten Erdballs. Dort fand ich die Gelegenheit, die Sitten und
Gebräuche, die Sprache, Art und Wesen, das politische, soziale und
revolutionäre Leben der verschiedensten Völker der Welt zu studieren...
Durch meine Eltern, die
ununterbrochen über 40 Jahre lang selbständige kleine und größere Geschäfte in
Hamburg innehatten und die vom Lande aus in die Stadt gekommen waren, habe ich
schon frühzeitig als Kind und in meiner ersten Jugendzeit das Leben der kleinen
Geschäftsleute und der schaffenden Bauern kennengelernt. Die Beweggründe, warum
mich meine Eltern leider nichts lernen ließen ... (waren), daß ich unter allen
Umständen im Geschäft mit aufwachsen und bleiben sollte, um es später selbst
übernehmen zu können. Wenn alles anders kam, als sie es beabsichtigten, so
hatte das sein Gutes. Denn dadurch wurde ich der, der ich bin. Das Martyrium,
das ich auf mich nahm und das sich für große sozialistische Ideale im
zwanzigsten Jahrhundert vollzieht, steht nicht vereinzelt und isoliert,
abgeschlossen vom deutschen Volke da, es wird geteilt von vielen, vielen
namenlosen Kerkergenossen (zu denen auch Du, teurer Schicksalsgenosse, gehörst)
und findet Widerhall im Leben einer gewaltigen Millionenbewegung, die in der
sozialistischen Sowjetunion das ganze Volk erfaßt und begeistert und in vielen
Teilen der Welt ihre ideologische und organisatorische Ausbreitung gefunden
hat...
Wird man mich so ohne
weiteres aus der Kerkerverbannung wieder in die große Welt zurückkehren lassen?
Nein! Freiwillig ganz bestimmt nicht, Es besteht sogar die
Wahrscheinlichkeit... , daß bei einem für Deutschland gefahrvollen Vordringen
der Sowjetarmeen und im Zusammenhang mit der damit verbundenen Verschlechterung
der deutschen Gesamtkriegslage das nationalsozialistische Regime... nicht davor
zurückschrecken (wird), Thälmann vorzeitig beiseite zu schaffen oder aber für
immer zu erledigen...
Goethe sagt im
"Torquato Tasso": "Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich
ein Charakter in dem Strom der Welt". Und in "Wilhelm Meisters
Lehrjahren" heißt es: "Die Geschichte eines Menschen ist sein
Charakter". So ist auch unser allgemeiner Sprachgebrauch: Ein Mensch von Charakter
- das bedeutet: Er hat etwas erlebt und ist von den Erlebnissen geprägt worden,
er hat in sich etwas Festes, auf das wir uns verlassen können... Was ist das
hohe Charakterliche an einer Persönlichkeit? Daß sie in jedem Augenblick um der
Idee willen ihr ganzes Dasein einsetzt, um ein höheres zu gewinnen, daß sie
wirklich "jede Sache um ihrer selbst willen tut". Die Geschichte
unseres Lebens ist hart, deshalb fordert sie ganze Menschen. Du, ich und alle
Mitkämpfer für unsere große Sache müssen alle stark, fest, kämpferisch und
zukunftsicher sein. Denn Soldat der Revolution sein heißt: Unverbrüchliche
Treue zur Sache halten, eine Treue, die sich im Leben und Sterben bewährt,
heißt unbedingte Verläßlichkeit, Zuversicht, Kampfesmut und Tatkraft in allen
Situationen zeigen. Die Flamme, die uns umgibt, die unsere Herzen durchglüht,
die unseren Geist erhellt, wird uns wie ein Leuchtfeuer auf den Kampfgefilden
unseres Lebens begleiten.
Treu und fest, stark im
Charakter und siegesbewußt im Handeln, so und nur so werden wir unser Schicksal
meistern und unseren revolutionären Pflichten für die große, historische
Mission, die uns auferlegt ist erfüllen und dem wirklichen Sozialismus zum
endgültigen Sieg verhelfen können. "Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das
Leben, der täglich sie erobern muß."
Thälmann, Ernst: Zwischen Erinnerung und Erwartung, Autobiographische
Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1977, S. 56 - 58
Herausgegeben von „Kuratorium
Gedenkstätte Ernst Thälmann“ e.V.